Mein Höhepunkt der letzten Ferienwoche war der Viehscheid in Oberstdorf. Nein, es war der Höhepunkt des ganzen Sommers! Nun wissen vielleicht nicht viele, was ein Viehscheid eigentlich ist. Wirklich nicht viele?
Der Bergsommer geht zu Ende
Auch ich stand an einem eiskalten, aber sonnigen Septembermorgen am Oberstdorfer Scheidplatz im Ried und begrüßte mit Tausenden Touristen die tierischen Schönheiten. Nach einem Sommeraufenthalt auf den Alpen kehrte das Allgäuer Vieh nun ins Tal zurück.
Und die Touristen reisten von überallher an, um an den Viehscheidwochen teilzunehmen. Das Gedränge war nach der zweijährigen Corona-Pandemie sehr groß. Für Kurzentschlossene wie wir gab es deshalb keine Übernachtungsmöglichkeit in den Allgäuer Alpen.
Die Viehscheidzeit endete im Allgäu am letzten Wochenende im September. Wenn alle Tiere die Berge verlassen haben, treffen sich die Älpler und Hirten zu einem gemeinsamen Fest, dem Älplerletze, dem letzten Essen auf den Alpen und nehmen Abschied vom Bergsommer.
Viehscheid, Schellengeläute, Kranzrind und Trachten
Das war ein unvergessliches Spektakel! Auch für meinen Mann war der Viehscheid eine Premiere. Obwohl er aus dem Allgäu stammt. Um die Tausend Rinder und einige Esel kehrten an diesem Tag zu ihren Bauern im Tal zurück. Mit einer Riesenglocke oder Schelle (ja, es gibt Unterschiede) am Hals ausgestattet wurden die Tiere von den Alpenhirten und Alpenhirtinnen geführt. Das erste Tier in der Herde war mit einem prächtigen Blumenkranz zwischen den Hörnern geschmückt. Ein gutes Zeichen! Denn dies bedeutet, dass kein Tier während des Bergsommers starb!
Selbstverständlich sahen auch die Hirten und Hirtinnen festlich aus. Sie trugen ihre traditionellen Trachten: eine Lederhose mit Hosenträgern und einen Filzhut oder ein Dirndl mit einer Schürze. Wie ich sie liebe, diese bayerischen Traditionstrachten. Und das als eine preußische Flachlandtirolerin. Sie bedeuten für mich Wertschätzung des traditionellen Handwerks, der Qualität und die Verbundenheit mit der Natur. Und diese Aspekte hebe ich hervor. Ich distanziere mich von jeglichen Missbrauch von Trachten und Traditionen für ideologische Zwecke.
Bevor die ersten Tiere unten am Scheidplatz zu sehen waren, hörte man die Schellengeläute. Doch es dauerte noch eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich an uns vorbei kamen. Überraschend war für mich die Vielfalt der Herde. Ich rechnete ausschließlich mit der braunen Allgäuer Kuhrasse. Doch an mir zog eine kunterbunte und teilweise gefleckte Kuhherde vorbei: von braunen, über schwarz-weiße bis ganz braun oder schwarz.
Am Scheideweg?
Die Viehscheide in den Allgäuer Bergen, Österreich oder Schweiz sind ein absoluter Touristenmagnet. Doch in diesem Jahr fanden viele Viehscheide in einem etwas kleineren familiären Rahmen statt. Auf die Festzelte verzichteten viele Älpler oder sogar ganz auf die Zuschauer. Für die aufwendige Organisation der Feste können sie nicht genügend Leute aufzubringen. Viele Termine wurden gar nicht publik gemacht.
Laut Medienberichten entschieden sich viele Bauern gegen die Viehscheide aufgrund der Proteste der Tierschützer. Sogar Drohbriefe sollte es geben.
Auf die musikalische Unterhaltung im Festzelt mit Blasmusik, Bier und Weißwurst verzichteten wir auch. Lediglich die ersten Takte der musikalischen Untermalung konnte ich mir dann doch nicht entgehen lassen.
Die Almwirtschaft erhalten trotz Klimawandel
Die Almen und Alpen gehören zu den ältesten Kulturlandschaften. Die Almwirtschaft ist eine exzessive Form der Weidewirtschaft nicht nur in den Alpenregionen. Es ist eine besonders erhaltenswerte Form der Viehzucht. Denn sie trägt nicht nur zu Artenreichtum bei.
Aufgrund der Klimaerwärmung gewinnt die Almwirtschaft an Bedeutung. Die neuesten wissenschaftlichen Studien belegen, dass die Almen nicht nur immer früher grün werden, sondern sich die Vegetation ausdehnt und die Schneegrenze nach oben verschiebt. Auf den so zusätzlich entstanden Almflächen kommen die Bauern mit der Beweidung nicht hinterher. In den Tälern führt der Klimawandel wiederum dazu, dass dort die Futtermengen nicht ausreichend sind. Die Wissenschaftler empfehlen, dass die Rinder und Schafe bereits einige Wochen früher ihren Bergsommer auf den Alpen beginnen. Auch die Herden aus den intensiven Betrieben sollten aufgetrieben werden. So könnte das Problem des Futtermangels gelöst werden, und das ohne zusätzliche Düngemittel.
Born in the Alps
Auch unser Abschied vom Bergsommer ging zu Ende. Bei herrlichem Sonnenschein und sommerlichen Temperaturen zogen wir zu Fuß ins Dorf. Gegen den Strom von Touristen, die ins Bierzelt am Scheidplatz eilten.
Da am 13. September Einschulung war, kamen uns auch viele fröhliche und gelassene Erstklässler mit ihren Schultüten in der Hand entgegen. Und wie es die Tradition in einem Alpendorf so ist, trugen alle Mädchen und Jungen hübsche Trachten. An einem besonderen Tag trägt man eben besondere Kleidung. Was für ein schöner Anblick.
Diese flüchtigen Begegnungen machten mich etwas nachdenklich. Was wünscht man den kleinen Erstklässler zum Schulstart? Schließlich ahnen sie nicht, welche ökologischen und ökonomischen Altlasten ihnen die Vorgängergenerationen hinterlassen, schrieb Professor Yasmin Weiß an diesem Tag auf LinkedIn. Wahrscheinlich wissen die Schüler der Oberstdorfer Grundschule noch gar nicht, dass diese wunderschöne alpine Landschaft vom Klimawandel bedroht ist.
Ich wünsche den Erstklässler und allen Schülern Lehrer, die ihnen die komplizierten Zusammenhänge dieser Welt mit einer Leichtigkeit erklären. Wie wichtig das Verständnis der Zusammenhänge zwischen den Natur-, Wirtschaftswissenschaften und der Geschichte ist, haben wir in den letzten Monaten schmerzlich erfahren müssen.
Die Lehrer und die Eltern sollen die Kinder auf der Lernreise unterstützen und begleiten. Aber die Hand auch mal loslassen und ihre Kreativität fördern. Nur so können sie verstehen, dass das Lernen eine wichtige Kompetenz für die Zukunft ist.
Wer weiß, welchen künftigen Visionären und Strategen ich in Oberstdorf begegnete.
Ab nach Hause
Für uns gab es noch eine gemütliche Kaffeepause und eine kurze Runde durch die lokalen Geschäfte. Mit meinem strengen ,nachhaltigen‘ Blick inspizierte ich die Auslagen und die Kleiderständer. In einer Sport- und Freizeithochburg ist das Polyester-Angebot selbstverständlich sehr groß. Beim letzten Besuch in Oberstdorf irritierte mich nicht nur dieses Überangebot an Kunstfasern, sondern die allgegenwärtige und vermeintliche Nachhaltigkeit. An jedem Schaufenster klebte das Wort ,nachhaltig‘, überspitzt ausgedrückt. Ich übte sogar ein Streitgespräch über Greenwashing auf der Fahrt, doch die Folien mit dem Buzzword wurden entfernt.
Deine Alicja von kapelusch